Und manchmal frage ich mich in diesen Novembertagen, was in den Jahren ab
1930 und dann vor allem von 1933-1945 hier von dieser Kanzel gepredigt worden
ist. Ich weiß es nicht. Ich kann es nur erahnen. Oder: befürchten.
„Wir wissen: Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, zerbrochen wird, dass wir
einen Bau haben von Gott erbaut“.
Ein Satz, den ich liebe, wenn er Menschen am Ende eines hoffentlich langen und
gesegneten Lebens zum großen Trostwort wird, das trägt: ins Sterben hinein - und
weit darüber hinaus.
Ein Satz, der mir kaum über die Lippen kommen mag, wenn Leben hier ungnädig
verkürzt, brutal abgebrochen, durch Gewalt oder schrecklichen Unfall weggerissen
wird.
Wir wissen um eine himmlische Heimat... Ja. Aber wer zu früh dorthin umziehen
muss, den vermisse ich dennoch hier. Und ich will bei Gott einklagen, was er
doch versprochen hat, seinen Engeln Befehl zu geben, dass keiner sich auch nur
einen Fuss stossen soll... Dass niemandem ein Haar gekrümmt, dass niemand
Schaden nehmen soll an Leib und Seele...
Und: Wir wissen um unsere himmlische Heimat. Ja.
Aber das ist auch ein Satz, der, wie wir wissen, auch auf schreckliche Weise
mißbrauchbar war … und ist: Im gepredigten Wissen um die neue himmlische Heimat
hat man Männer in die Schützengräben und damit millionenfach in den sicheren Tod
geschickt - und tut das noch heute.
Was wurde hier gepredigt in den Jahren ab 1930? Oder vor und ab 1914 bis 1918 in
unserer Vorgängerkirche, in St. Lukas am Erdkampsweg? Ich weiß es nicht. Wir
ahnen es aber.
Und finden Beispiele, wie nicht einmal vor Gottes Wort Halt gemacht wurde, wenn
es hieß, die letzten Reserven für einen abscheulichen Krieg zu mobilisieren.
Aus einer Predigt des Sommers 1914 in einer großen, deutschen Kathedrale:
„Deutsche Brüder und Schwestern! Hat unser Gott uns in diesen großen Tagen
zu einem Ganzen zusammengeschlossen, auf Leid und Freude, auf Tod und Leben, so
lasst uns denn gemeinsam der Tatsache ins Auge schauen: Wir werden leiden
müssen. Fern sei es von uns, darüber zu klagen. Seit dem Tage von Golgatha ist
das Leiden geheiligt. Seit Christus wissen wir, dass des Lebens größte Güter aus
dem Leiden geboren werden. Fürchte dich nicht vor dem, das du leiden wirst. Das
gilt jedem unter uns. Jeder Mutter sei's gesagt, die ihren Sohn ins Feld ziehen
sieht, jeder Gattin sei's ins Herz geschrieben, die den Vater ihrer Kinder zu
den Waffen sendet, jeder Braut, aus deren Armen sanft und doch stark der
Bräutigam sich löst. Eine heilige Stunde des Opferns ist angebrochen. Bringt
dar, ihr Deutschen, was eurem Herzen am teuersten ist. “
Liebe Gemeinde, da stockt uns der Atem. Eine „heilige Stunde des Opferns“?
Begründet mit Jesu Selbsthingabe? Ist nicht Christus gestorben, damit ein für
allemal Schluss wäre mit dem gewaltvollen Töten? Ist nicht das die Krone unseres
Glaubens, dass es dank seines Leidens und Sterbens keiner weiteren Opfer bedarf?
Dass Gott keine weiteren Opfer will? Sondern Frieden, Frieden und nochmals
Frieden!
Die „heilige Stunde des Opferns“ beschwor man 1914. Da ist kein Raum
für Zweifel. Wo das Heilige ins Feld geführt wird, da bleibt kein Platz für
Nachdenklichkeit.
Der leidende Christus aber sollte die Frauen bereit machen, die Männer, Söhne
und Brüder in die Schützengräben zu schicken. Das Opfer Christi, seine
Selbsthingabe am Kreuz, die Menschen frei macht von Sünde und Tod, wird hier zum
Vorbild für die Opfer, die das deutsche Volk zu bringen habe. Der Gottessohn,
der uns lehrte, die Feinde zu lieben, wurde mißbraucht als der, der dem
deutschen Kaiser das Schwert in die Hand drückt.
Die „heilige, deutsche Erde“ - sie sollte in der heiligen Stunde des
Opferns, in einem ebenfalls „heiligen Krieg“ verteidigt werden. Ein
Krieg, bei dem Gott als oberster Kriegsherr auftrat in einem Kreuzzug, der die
Anderen, die Ungläubigen vernichten sollte. Das nun allerdings kennen wir auch
aus unseren Tagen, jene religiöse Rechtfertigung von Folter und Mord, von Terror
in so vielen Ländern.
Doch auch bei uns wurde so gepredigt. Vielleicht auch von dieser Kanzel aus!?
Von einem Gott gepredigt, der „die deutsche Fahne entrollt“ und als
Gott der Deutschen sein auserwähltes Volk auf die Schlachtfelder Verduns und
Tannenbergs führt, in den Schlamm von Flandern und die Savannen Ostafrikas, in
U-Boot Krieg und Luftkampf.
„Gott mit uns“ - das war die Fehlannahme aller Krieg führenden und
sich christlich nennenden Nationen. Auf beiden Seiten der Schützengräben. Auf
den Koppelschlössern geschrieben vermag ich das nur als Gotteslästerung zu
sehen.
Liebe Gemeinde, was wurde unter diesem Kreuz gepredigt? Was haben unsere
Vorgänger hier gesungen und gebetet?
Wir sind nicht Richter über unsere Vorfahren. Wir sehen nur einen Ausschnitt von
dem, was sie bewogen und angetrieben hat.
Und wissen nur zu genau um unsere eigene Fehlbarkeit, Begrenztheit und unsere
Irrtümer. Wir sind nicht Gott, sondern Menschen.
Demut steht uns an - der Mut, das jemand Anderes größer ist als ich es bin. Die
Einsicht, dass wir nicht alles vermögen und wissen. Auch unsere Auslegungen des
Evangelium sind unvollkommen, sind am Ende tastendes Suchen, nie ein Haben oder
Wissen. Wir legen das Wort Gottes aus in unsere Zeit hinein, und wissen doch
darum, dass es immer ein fremdes Wort bleiben muss, das nie ganz aufgeht in
unserer Wirklichkeit, dass da immer ein Rest bleibt von Mysterium, von
Geheimnis, von göttlicher Weisheit allein.
Ich weiß eben - auch in Glaubensdingen – nicht(s). Ich weiß, dass ich nichts
weiß. - Sondern: Ich darf glauben. Ich komme um das Wagnis des Glaubens nicht
herum - und will das auch gar nicht!
„Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden“ sagt der gekreuzigte
Auferstandene zu seinen Freunden. Das bestreitet die Macht aller Mächte und
Gewalten, die uns vereinnahmen und beherrschen wollen.
Die Macht Gottes zeigt sich seinem Christus, der dem Tode entrissen ist und
will, dass auch wir das Leben haben. Wir und auch die anderen. Der Bruder mit
der anderen Sprache. Die Schwester mit der anderen Hautfarbe.
Auch im Sommer 1914 gab es Predigende, die diese Botschaft mutig und laut
gesagt haben. Auf der Kanzel der „Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche“ stand Pfarrer
Walther Nithack-Stahns. Er schloss seine Predigt am 2. August 1914:
„Und noch immer bin ich des Glaubens, trotz Spottes und Widerspruchs: Gott
will nicht, dass seine Menschen einander vernichten, sondern dass sie auf dieser
Erde mit vereinter Kraft wirken in Gerechtigkeit. Jeder Krieg ist Bruderzwist,
alles da vergossene Blut ist Bruderblut. Wir wären nicht wert, uns mit dem
Christentum zu schmücken, wenn wir anders dächten“.
Liebe Gemeinde,
wir hoffen auf eine Welt, in der die Kriegsszenen, die wir sehen, mit Frieden
überkleidet werden. Diese Hoffnung lebt in uns, auch wenn wir wenig von ihrer
Erfüllung sehen können.
Die Hoffnung lebt, weil sie in Jesus und seiner Art zu leben, Gestalt gewonnen,
ein Gesicht bekommen hat. Aus dem Traum vom Frieden ist in seinem Leben
Wirklichkeit geworden. Das Abendmahl ist seine Friedensversammlung. Sogar der
Verräter trinkt aus der heil ‘gen Schale.
Unser Zuhause erscheint im Traum vom Frieden. Gott überkleidet die zerbrechliche
Welt, ihre Narben und Risse, mit dem Gewand das Hoffnung heißt und Frieden. Das
können wir wissen, das dürfen wir glauben.
Amen.
Orgelimprovisation (Kantorin Julia Götting)
Abkündigungen